MEINE MUTTER RAUCHT GERN EINE ZUM KAFFEE

aus: Saśa Staniśić, Herkunft, Luchterhand, 2019, S. 118-122.

20. September 2020

Mutter lernt früh die Uhr zu lesen, das ist das Los der Eisenbahnertochter. Sie weiss alle Ankunfts- und Abfahrzeiten und sie weiss, zu welcher Stunde ihr Vater zurückkommen soll. Wartet auf ihn bei allen Wettern am Gleis. Dreckig und müde und schwer wie Rauch steigt er aus, hebt sie hoch und trägt sie nach Hause, wo ein warmes Essen wartet.

Reisen bedeutet für meine Mutter bis heute das: Freude, dass jemand, den sie liebt, irgendwo angekommen ist. Ihr Wunsch an mich, an uns alle, lautet: man möge ihr Bescheid sagen, wenn es so weit ist. Von eigenem Reisen nah oder fern, habe ich sie schwärmen hören. Ihre Kindheit an der Eisenbahnstrasse war nur das eine: eine Kindheit an einer Eisenbahnstrasse. Die Züge transportierten kein Fernweh. Familienreisen konnte sich die Familie nicht leisten.

Die selbstbewussten jugoslawischen Sechziger durchmass meine Mutter mit dem bescheidenen Ehrgeiz einer jungen Frau, der gelang, was ihr wichtig schien. Sie hatte gute Schulnoten und Freunde. Im Gymnasium las sie Marx und Kant und konnte alles kochen, was ihre Mutter kochen konnte. Meine Mutter war als junge Frau schön. Trug ihr Haar lang und offen. Über das Verliebtsein sprachen wir nie. Weder über ihres noch über meines.

Mutter schrieb sich für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajevo ein. Sie war nicht ambitioniert, sie war interessiert. Nun fuhr sie selbst mit Zug zwischen Viśegrad und Sarajevo, und bei einer ihrer ersten Fahrten stimmten zwei ältere Frauen ein Partisanenlied an. Mutter sang nicht mit, es war ihr zu dämlich. Einmal reiste sie in einem Zug auf dem ihr Vater Bremser war, und kam mit Verspätung an.

Die Bahnstrasse führte durch das Tal der Drina. Mutter las. Lernte. Verlor keine Zeit. Draussen verging Jugoslawien vage vor sich hin. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.

In ihrer Studenten-WG fiel im Winter die Heizung ständig aus. Mutter schlief in voller Montur, als stiege sie auf schneebedeckte Träume. Sarajevo blühte und stank und tanzte und stritt. Mutter wurde schwanger. Ich lernte mit ihr fürs Examen, habe das meiste aber nicht mehr parat.

Sehr gute Noten zu bekommen schien schwieriger, wenn du eine Frau warst, sagt meine Mutter, und sie lernte einfach mehr als die Männer. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.

Mutter bezog einen kleinen Studentenkredit und leistete sich nur ein Mal im Monat eine warme Mahlzeit ausserhalb der Mensa. Wenn einer seiner Züge in Sarajevo hielt, brachte Grossvater ihr Essen aus Viśegrad mit. Mutter wartete am Gleis. Er stieg aus, lächelnd und verrusst. Roch nach der Kohle, die ihre Pita in der Lokomotive warm gehalten hatte.

1980 kehrte sie nach Viśegrad zurück mit knapp den besten Abschlussnoten ihres Jahrgangs, wurde Marxismus-Dozentin am Gymnasium und stand für überteuerte Waren von fragwürdiger Qualität an. Sie echauffierte sich über die unfähige Führungsriege und soziale Ungleichheit. Fürchtete sich vor dem erstarkten Nationalismus und nahm ihn nicht wirklich ernst. Die Krise war für Mutter – für die meisten – auszuhalten gewesen, bevor sie lebensbedrohlich wurde. Bevor sie in Polizeiuniform und Trainingshose eine freundliche Warnung aussprach.

Mutter leidet an der Vergangenheit unromantisch. Sie hatte die Hindernisse sozialer Herkunft überwunden – ihre Eltern waren keine reichen Leute, mussten sich Geld leihen. Sie hat als Frau und aus einem nicht-akademischen Umfeld stammend, als einziges der drei Kinder studiert. 1990, als das noch unüblich war, machte sie sich selbständig.

Die ethnische Herkunft allerdings hing ihr wegen ihres arabischen Namens an wie ein hartnäckiges Gerücht. Sie war ein Makel in den Augen der neuen Bestimmer, ein Makel, der sich weder mit Ehrgeiz noch mit Bildung oder Geschick korrigieren liess. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.

Als Mutter mit fünfunddreissig ihr Leben in Viśegrad aufgeben musste, verliess und verlor sie einen Ort, der bereits voll war mit guten war mit guten Erinnerungen, Erfolg und persönlichem Glück. Das, was ihr fehlt, ergänzt sie heute nicht mit Erfindungen wie ich. Was fort ist, ist fort. Sie weiss noch, wie ihr Vater riecht, bevor er aufbricht (Kölnisch Wasser), und wie er bei seiner Rückkehr riechen wird (Kohlen). Meine Mutter raucht gern eine zum Kaffee und isst dazu gerne Twix. Herkunft ist das Zusammenzucken, wenn jemand in ihrer Geburtsstadt ihren Namen ruft.

Ich habe zwei Lieblingsfotos von meiner Mutter. Auf dem ersten, ein Portrait, ist sie achtzehn oder neunzehn. Die Gesichtszüge – ich kann es nicht anders sagen – unendlich sanft. Das lange, schwarze Haar. Und der Blick in sich gekehrt. Sie ist voll bei sich. Als Kind möchte man die eigene Mutter eher nicht in sich gekehrt sehen, sondern einem zugewandt. Heute finde ich ihre Versunkenheit schön. Zumal ich sie selten so erleben durfte. Mutter war erst für mich da, dann für andere, dann für sich.

Auf dem zweiten Bild ist sie umgeben von Freunden. Schlaghosen, Koteletten, Alkohol und Wünsche. Vater ist dabei, aber noch nicht mein Vater. Mutter lächelt, die anderen sind im ernsten Gespräch, eingefrorene Gesten aus einer bewegten Zeit. Mutter lächelt, als wäre sie ausserhalb des Bildes. Sie lächelt, als wüsste sie nicht mehr als die anderen. Oder als wüsste sie weniger, wäre aber glücklicher.

Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Viśegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: «Wer hat entschieden, dass ich eine Muslimin bin?»

Mutter hat nichts dergleichen gesagt. Und das war klug. Sie hat sich für die Auskunft bedankt. Sie hat mich von Grossmutter abgeholt und Vater von der Arbeit. Während wir packten – was würden wir am ehesten brauchen –, gingen in den Bergen die ersten muslimischen Häuser in Flammen auf.

Mutter hat telefoniert, hat die Empfehlung des Polizisten weitergegeben. Vater und ich haben den Yugo beladen. Die beiden sind dann noch in den Garten. Haben sich dort umarmt, wo sie – es kam mir vor, als sei es tags zuvor gewesen und zugleich in einem Sommer vor vielen Jahren – ihren letzten Tanz getanzt hatten. Vater stand mit dem Rücken zu mir, Mutter mit dem Gesicht. Ihre Miene, die Augen weit offen, von derselben Entrücktheit wie auf dem Foto. Sie war körperlich bei ihrem Mann und sonst bei sich und ihrer Angst, bei ihrer Angst um mich, um uns, und auch schon weiter, schon nach dem Abschied, schon jetzt, schon fort.

Wir haben Grossmutter Kristina abgeholt, die selbst nur bis über die Grenze mitkommen und später wieder mit Vater zurückfahren würde. Sie wollte sicher sein, dass wir die Stadt lebend verliessen. Das haben wir dann, wir haben überlebt und sind, jeder für sich, raus aus unseren Leben.

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