NEVER LET ME GO

Kazuo Ishiguro, Blessing-Verlag, München, S. 537/538.

30. Januar 2022

Ich stand vor einem riesigen gepflügten Acker. Ein Zaun mit doppelt gespanntem Stacheldraht hinderte mich am Betreten, und ich sah, dass ausser diesem Zaun und der Gruppe der drei oder vier Baumkronen über mir über viele Meilen hinweg nichts dem Wind im Weg stand. Vor allem am unteren Stacheldraht hatte sich Müll aller Art verfangen und ineinander verhakt. Es war wie das Treibgut, das an einem Strand angeschwemmt wird: Manches davon muss der Wind meilenweit vor sich hergetragen haben, bis sich ihm endlich diese Bäume und dieser doppelte Stacheldraht in den Weg stellten. Auch in den Ästen der Baumkronen flatterten zerrissene Plastikfolien und Teile von Einkaufstüten. Während ich dort stand, den sonderbaren Müll betrachtete und den Wind über die leeren Felder fegen spürte, liess ich zum ersten und letzten Mal ein Bild in mir entstehen, eine kleine Fantasie bloss – schliesslich war ich in Norfolk, und es war erst ein paar Wochen her, seit ich ihn verloren hatte. Ich dachte an den Müll, an die flatternden Plastiktüten in den Zweigen, an diese Küstenlinie aus angewehtem Treibgut, die sich im Zaun verfangen hatte, und ich schloss halb die Augen und stellte mir vor, dass hier der Ort sei, an dem alles, was ich seit meiner Kindheit verloren hatte, angeschwemmt würde, und ich stünde jetzt jetzt davor, und wenn ich nur laang genug wartete, würde jenseits des Ackers eine winzige Gestalt am Horizont auftauchen und nach und nach grösser werden, bis ich sah, dass es Tommy war, und er würde winken, vielleicht sogar rufen. Weiter gedieht die Fantasie nie – das liess ich nie zu –, und obwohl mir die Tränen über das Gesicht liefen, schluchzte ich nicht und verlor auch nicht die Beherrschung. Ich wartete einfach eine Weile, dann kehrte ich zum Auto zurück und fuhr davon, dorthin, wo ich erwartet wurde.

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