HABEN MASCHINEN EIN HERZ?

Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, Blessing-Verlag, München, 2021, S. 249-260

13. Juli 2022

Klara ist das KF von Jossie – ein beinahe schon menschliches Wesen mit künstlicher Intelligenz. Jossie hat sie in einem Laden ausgewählt, weil Klara ihr gefiel und entsprach. Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass Jossie an einer schweren Krankheit, an der viel früher eine Schwester von ihr schon gestorben ist. Nun gibt es verschiedene Versuche, den drohenden Verlust zu verhindern.

Nach einem Besuch bei einem Porträtisten sind Klara und der Vater von Jossie unterwegs im Auto.



Auszug aus dem Buch:


Licht- und Schattenmuster bewegten sich über uns hinweg, bis wir aus dem Unterbrückenareal wieder herauskamen und an einer breiten Strasse mit hohen braunen Gebäuden auf beiden Seiten warten. Wir kamen an einem umfangreichen Wesen mit mehreren Gliedmassen und Augen vorbei, und während ich es beobachtete, ging ein Riss senkrecht durch seine Mitte und es teilte sich, und erst jetzt erkannte ich, dass es die ganze Zeit schon zwei einzelne Leute gewesen waren – ein Läufer und eine Hundeleinenperson –, die in entgegengesetzte Richtungen unterwegs waren und einander zufällig in dem Moment passierten. Es folgte ein Laden mit dem Schild «Zum-Hier_Essen und Mitnehmen», und davor lag eine verlorene Baseballmütze auf dem Gehsteig.

«Wolltest du nicht irgendwo speziell hin?» fragte der Vater. «Josie hat was über denen früheren Laden gesagt. Dass wir heute dran vorbeigefahren sind.»

Kaum hatte ich dies gehört, erkannt ich die Chance, die sich dahinter verbarg, und rief, vielleicht etwas zu laut: «O ja!» Ich hatte mich aber gleich wieder unter Kontrolle und fügte leise hinzu: «Das wäre wirklich sehr schön. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.»
«Sie sagte, dass dein Laden vielleicht gar nicht mehr da ist. Dass er womöglich umgezogen ist.»
«Ich bin nicht sicher. Trotzdem – es würde mich sehr glücklich machen, wenn Mr. Paul uns in die Gegend bringen könnte.»
«Gut. Wir müssen sowieso Zeit totschlagen.»

An der nächsten Kreuzung bog er rechts ab, und währenddessen sagte er: «Ich frag mich, wie Chrissie wohl zurechtkommt. Worüber die zwei jetzt reden. Vielleicht hat sie’s geschafft das Thema zu wechseln.»

Der Verkehr war dichter geworden, und wir fuhren langsam inmitten der anderen langsamen Fahrzeuge. Die Sonne zeigte sich manchmal, aber sie stand schon recht tief, und die hohen Gebäude versperrten ihr oft die Sicht. Die Gehsteige waren voller Büroarbeiter am Ende eines Arbeitstags, und wir kamen an einem Mann auf einer Leiter vorbei, der etwas an einem glänzend roten Schild mit der Aufschrift «Grillhähnchen» machte. Die Fussgängerübergänge und Abschleppzonenschilder zogen vorüber, und ich spürte, dass wir uns dem Laden näherten.

«Kann ich dich was fragen?», sagte der Vater.
«Ja, natürlich.»
«Ich denke, dass Josie noch weitgehend im Dunkeln tappt. Aber du? Wie viel hast du schon vorher vermutetet? Wie viel heute erfahren? Würde es dir was ausmachen, mir zu sagen, was du weisst?»
«Vor dem heutigen Besuch bei Mr. Capaldi», sagte ich, «hatte ich den einen oder anderen Verdacht, aber vieles war mir auch völlig unbekannt. Jetzt, nach dem Besuch, kann ich Mir. Pauls Unbehagen verstehen. Und ich verstehe auch seine anfängliche Kälte mir gegenüber.»
«Dafür entschuldige ich mich noch einmal. Sie haben dir also alles erklärt. Welche Rolle du bei der ganzen Sache spielst.»
«Ja. Ich glaube, sie haben mir alles gesagt.»
«Und was denkst du? Meinst du, dass du es hinkriegst? Diese Rolle zu übernehmen?»
«Es wird nicht leicht sein. Aber ich glaube, wenn ich Josie weiter aufmerksam beobachte, liegt es inerhalb meiner Fähigkeiten.»

«Dann lass mich noch was anderes fragen. Folgendes nämlich. Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht? Aber nehmen wir einfach mal, dass es so ist. Meinst du dann nicht, dass du nicht nur ihre Eigenheiten erfassen müsstest, sondern ihr tiefstes Inneres, um Josie wirklich zu lernen? Müsstest du nicht lernen, was ihr Herz ist?»
«Doch, sicher.»
«Und das könnte doch schwierig sein, oder? Etwas, das sogar deine grandiosen Fähigkeiten übersteigt. Denn eine Verkörperung würde nicht ausreichen, wie perfekt sie auch sein mag. Du müsstest dir ihr Herz erschliessen, und zwar vollkommen, sonst kannst du niemals in irgendeinem signifikanten Sinn Josie werden.»

Ein öffentlicher Bus war neben einigen verlassenen Obstkästen stehen geblieben. Als der Vater ausscherte, um ihn zu umrunden, gab das Auto hinter uns ärgerliche Hupgeräusche von sich. Kurz darauf ertönte weiteres ärgerliches Huper, das aber weiter entfernt und nicht gegen uns gerichtet war.

«Das Herz, von Sie sprechen», sagte ich. «Das könnte tatsächlich das Schwierigste sein, das ich zu lernen habe. Es könnte wie ein Haus mit vielen Räumen sein. Trotzdem denke ich, dass eine eifrige KF im Lauf der Zeit jeden einzelnen Raum getreten und einen nach dem anderen erkunden und kennenlernen könnte, bis sie alle wie ihr eigenes Zuhause werden."

Der Vater hupte seinerseits ein Auto an, das sich aus einer Seitenstrasse in den Verkehr einzufädeln versucht.

«Aber mal angenommen, du betrittst einen solchen Raum», sagte er, «und entdeckst darin einen weiteren Raum. Und in diesem weiteren Raum ist wieder einer. Lauter Räume in Räumen in Räumen. Könnte es nicht dich auch so sein, wenn du versuchst dir Josies Herz zu erschliessen? Dass du – egal, wie lang du durch die ganzen Räume wanderst – immer und immer weitere entdeckst, in denen du noch nicht warst?»

Darüber dachte ich einen Moment nach, dann sagte ich: «Natürlich ist ein menschliches Herz komplex, zwangsläufig. Aber es muss auch begrenzt sein. Selbst wenn Mr. Paul im poetischen Sinn spricht, muss das Erlernbare endlich sein. Natürlich kann Josies Herz einem unbekannten Haus mit Räumen in Räumen ähneln. Aber ich bäbe mein Äusserstes, wenn dies der beste Weg wäre, um Josie zu retten. Und ich glaube, die Chancen, dass es mir gelingt, stehen gut.»
«Hmm.»

Eine Weile fuhren wir schweigend. Als wir an einem Gebäude, an dem «Nagelboutique» stand, und unmittelbar danach an einer Reihe sich abschälender Plakate vorbeikamen, sagte er: «Josie hat gesagt, dass dein Laden irgendwo hier in diesem Bezirk ist.»

Das mochte so sein, doch war mir die Umgebung noch ganz unvertraut. Ich sagte: «Mr. Paul hat sehr offen gesprochen. Vielleicht würde er mir im Gegenzug erlauben, ebenso offen zu sprechen.»
«Nur zu.»
«Mein früherer Laden ist nicht der wahre Grund, weshalb ich so gern in diesen Bezirk fahren wollte.»
«Nein?»
«Auf der Fahrt in die Stadt kamen wir nicht weit von dem Laden an einer Maschine vorbei. Sie wurde von Instandsetzern benutzt, und sie erzeugte eine entsetzliche Umweltbelastung.+
«Okay …. Sprich weiter.»
«Es ist nicht leicht zu erklären. Aber es ist sehr wichtig, dass Mr. Paul glaubt, was ich ihm jetzt sage. Diese Maschiine muss vernichtet werden. Das ist der wahre Grund, warum ich hierherkommen wollte. Die Maschine muss irgendwo in der Nähe stehen. Sie ist leicht zu identifizieren, weil an ihrem Gehäuse der Name ‘Cootings’ steht. Sie hat drei Schornsteine, und jeder stösst eine entsetzliche Umweltbelastung aus.»
«Und Du willst jetzt diese Maschine finden?»
«Ja. Und vernichten.»
«Weil sie eine Umweltbelastung verursacht.»
«Es ist eine schreckliche Maschine.» Ich beugte mich vor und hielt schon nach rechts und links Ausschau.

«Und wie genau planst du, sie zu vernichten?»
«Das weiss ich nicht genau. Deswegen wollte ich Mr. Paul gegenüber offen sprechen. Ich erbitte seine Hilfe. Mr. Paul ist ein erfahrender Ingenieur und ausserdem Erwachsener.»
«Du fragst mich, wie man mutwillig eine Maschine zerstört?»
«Erst müssen wir sie finden. Könnten wir zum Beispiel bitte in diese Strasse einbiegen?»
«Das geht nicht, Einbahn in die falsche Richtung. Also, ich kann Umweltverschmutzung so wenig leiden wie du. Aber geht das nicht ein bisschen zu weit?»
«Ich bin ausserstande, mehr zu erklären. Mr. Paul muss mir vertrauen. Wenn wir nur die Cootings-Maschine finden und vernichten können, dann glaube ich, wird das zu Josies vollständiger Gesundung führen. Dann wäre alles andere egal. Mr. Capaldi und sein Portrait und wie gut ich imstande bin, Josie zu lernen.»

Der Vater dachte darüber nach. «Also schön», sagte er schliesslich. «Versuchen wir’s zumindest. Dieses Ding hast du zuletzt wo gesehen?»
Wir fuhren weiter herum, und ich entdeckte das RPO-Gebäude – mit dem Feuerleiterhaus –, das sich rasch näherte. Hinter diesen Gebäuden sank die Sonne in der bekannten Weise, und dann kamen wir am Laden selbst vorbei. Wieder sah ich die Auslage mit den farbigen Flaschen und das Einbaubeleuchtungsschild, aber ich war so besorgt, ich könnte die Cootings-Maschine verpassen, dass ich kaum hinschaute. Als wir den Fussgängerübergang überquerten, sagte der Vater: «Das ist anscheinend eine Strasse für Taxis. Schau dir das an. Überall.»
«Vielleicht hier abbiegen. Bitte, wenn es geht.»

Die Cootings-Maschine stand nicht mehr da, wo ich sie zuvor gesehen hatte, die Strassen wurden wieder fremd, und ich blickte in alle Richtungen. Die Sonne leuchtete manchmal hell durch die Lücken zwischen Gebäuden, und ich überlegte, ob sie mich ermutigen wollte oder ob sie einfach beobachtete, wie ich vorankam. Als wir um eine weitere Ecke bogen und wieder keine Spur von der Cootings-Maschine entdeckten, sah man mir die wachsende Panik vielleicht an, denn der Vater sagte in einem freundlicheren Ton, als er mir gegenüber je angeschlagen hatte: «Du glaubst das wirklich, oder? Dass es Josie hilft?+
«Ja. Ja, ganz bestimmt.»

Eine Veränderung schien in ihm vorzugehen. Er beugte sich vor und blickte, wie ich, nach links und nach rechst mit dringenden Augen.
«Hoffnung», sagte er. «Verdammtes Ding, das einen nie in Frieden lässt.» Er schüttelte fast verbittert den Kopf, aber es war jetzt eine neue Kraft in ihm. «Okay. Ein Fahrzeug, sagst du. Benutzt von Bauarbeitern.»
«Es hat Räder, ist aber, glaube ich, kein Fahrzeug im eigentlichen Sinn. Es muss überallhin gezogen werden. An seinem Gehäuse steht ‘Cootings’, und es ist hellgelb.»

Er blickte auf die Uhr. «Die Bauarbeiter sind vielleicht für heute fertig. Lass mich ein paar Sachen versuchen.»

Der Vater begann geschickter zu manövrieren. Wir liessen die anderen Fahrzeuge, die Vorbeigehenden, die Geschäftsfassaden hinter uns und befuhren die kleineren Strassen im Schatten fensterloser Gebäude und hoher Wände, die mit bunten Cartoonbuchstaben bemalt waren. Manchmal blieb der Vater stehen, wendete und steuerte langsam durch enge Passagen neben Maschendrahtzäunen, jenseits derer wir parkende Lkw und schmutzige Autos sahen.

«Siehst du was?»

Immer wenn ich den Kopf schüttelte, liess er den Wagen wieder einen Satz nach vorne machen, sodass ich fürchtete, wir könnten einen Hydranten treffen oder beim scharfen Abbiegen eine Hausecke streifen. Wir blickten in weitere Innenhöfe, und einmal fuhren wir zwischen zwei schief geöffneten Torflügeln hindurch, obwohl an dem einen ein Schild mit der Aufschrift hing, und dann durch einen Innenhof voller Fahrzeuge und gestapelter Kisten und mit einem Baukran am anderen Ende. Aber noch immer war keine Cootings-Maschine in Sicht, und der Vater brachte uns jetzt in ein Schattenviertel mit geborstenen Gehsteigen und einsamen Vorbeigehenden. Wieder bog er in eine enge Gasse zwischen einem hoch aufragenden Etagen-zu-vermietenden-Gebäude, und dahinter war ein weiterer maschendrahtumzäunter Hof.

«Da! Mr. Paul, da ist sie!»

Der Vater trat jäh auf die Bremse. Weil der Hof auf meiner Seite war, drückte ich den Kopf direkt an die Scheibe, und hinter mir drehte sich der Vater im Sitz, um besser zu sehen.

«Die da? Mit den Auspuffrohren?»
«Ja. Wir haben sie gefunden.»

Ich liess die Cootings-Maschine nicht aus den Augen, während der Vater das Auto langsam wendete. Dann hielt er wieder an.

«Die Haupteinfahrt ist mit einer Kette abgesperrt», sagte er. «Aber der Nebeneingang …»
«Ja, der kleine Eingang ist offen. Ein Vorhergehender könnte zu Fuss eintreten.»

Ich löste den Sicherheitsgurt und war im Begriff auszusteigen, doch der Vater legte mir die Hand auf den Arm.

«Ich würde nicht da hineingehen, bevor du nicht sicher weisst, was genau du vorhast. Es sieht zwar alles ziemlich marode aus, aber man kann nie wissen. Es könnte eine Alarmanlage installiert sein, eine Videoüberwachung. Du hast vielleicht keine Zeit, um herumzustehen und nachzudenken.»
«Ja, da haben Sie recht.»
«Bist du ganz sicher, dass es die richtige Maschine ist?»
«Ganz sicher. Ich kann sie von hier aus deutlich sehen, und es besteht kein Zweifel.»
«Und sie betriebsunfähig zu machen, sagst du, wird Josie helfen?»
«Ja.»
«Wie willst du das anstellen?»

Ich starrte auf die Cootings-Maschine, die fast in der Mitte des Hofs stand, getrennt von den übrigen geparkten Fahrzeugen. Die Sonne fiel zwischen zwei Silhouettengebäuden hindurch, die in einigem Abstand den Hof überragten. Ihre Strahlen wurden momentan von keinem der beiden Gebäude blockiert, und die Kanten der geparkten Fahrzeuge schimmerten.
«Ich fühle mich sehr dumm», sagte ich endlich.
«Nein, es ist wirklich nicht so einfach», sagte der Vater. «Und zu allem Überfluss würde dein Vorhaben als Sachbeschädigung gewertet, und das ist strafbar.»
«Ja. Aber wenn die Leute in den hohen Fenstern dort drüben zufällig etwas mitbekämen, wären sie bestimmt froh, dass die Cootings-Maschine vernichtet wird. Sie wissen ja sicher, was das für eine schreckliche Maschine ist.»
«Kann schon sein. Aber wie willst du es anstellen?»

Der Vater lehnte sich jetzt im Sitz zurück, einen Arm ganz entspannt auf das Lenkrad gelegt, und ich hatte den Eindruck, dass er bereits zu einer möglichen Lösung gelangt war, sie aber aus irgendeinem Grund noch nicht verraten wollte.

«Mr. Paul ist ein erfahrener Ingenieur», sagte ich, drehte mich zu ihm und sah ihn direkt an. «Ich hatte gehofft, dass ihm etwas einfiele.»

Der Vater aber blickte durch die Frontscheibe in den Hof.

«Vorhin im Café konnte ich es Josie nicht erklären», sagte er. «Ich konnte ihr nicht erklären, warum ich diesen Capaldi derart hasse. Warum ich mich nicht überwinden kann, wenigstens höflich zu sein. Aber ich würde gern versuchen, es dir zu erklären, Klara. Wenn es dir nichts ausmacht.»

Der Themenwechsel war höchst unerwünscht, aber um sein weiteres Wohlwollen nicht aufs Spiel zu setzen, sagte ich nichts, sondern wartete.

«Ich glaube, ich hasse Capaldi, weil ich im Grunde meines Herzens den Verdacht habe, er könnte recht haben. Es könnte stimmen, was er behauptet. Nämlich, dass die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei bewiesen hat, dass an meiner Tochter nichts so einmalig ist, dass da nichts ist, was unser modernes Instrumentarium nicht extrahieren, kopieren, transferieren könnte. Dass wir die ganze Zeit, viele Jahrhunderte lang, unter einer falschen Voraussetzung miteinander gelebt und einander geliebt und gehasst haben. Einer Art Aberglauben, an dem wir festgehalten haben, weil wir’s eben nicht besser wussten. So sieht es Capaldi, und ein Teil von mir fürchtet, er hat recht. Chrissie hingegen ist anders als ich. Sie weiss es noch nicht, aber sie wird sich niemals überzeugen lassen. Sollte je der Zeitpunkt kommen … Egal, wie perfekt du deine Rolle spielst, Klara, egal, wie sehr sich Chrissie wünscht, dass es klappt – sie wird es nie hinnehmen können. Sie ist zu … altmodisch. Auch wenn sie weiss, dass sie sich gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik stellt. Sie wird es nicht hinkriegen. Sie wird sich niemals so verbiegen können. Ich bin da anders. Ich habe … eine Art Kälte in mir, die ihr fehlt. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein erfahrender Ingenieur bin, wie du sagst. Deswegen fällt es mir so schwer, gegenüber Leuten wie Capaldi höflich zu sein. Wenn sie so reden, wie sie reden, wenn sie tun, was sie tun, dann ist das für mich so, als nähmen sie mir, was ich für das Kostbarste im Leben halte. Drücke ich mich verständlich aus?»

«Ja. Ich verstehe Mr. Pauls Gefühle.» Ich liess ein paar stille Sekunden verstreichen und fügte dann hinzu: «Nach allem, was Mr. Paul sagt, scheint es mir umso wichtiger, dass Mr. Capaldi sein Vorhaben nie verwirklicht. Wenn wir Josie gesund machen könnten, ist alles andere hinfällig, das Portrait und dass ich sie lerne. Daher frage ich Sie noch einmal. Bitte informieren Sie mich, wie ich die Cootings-Maschine vernichten könnte. Ich habe den Eindruck, dass Mr. Paul eine Idee hat, wie sich das bewerkstelligen liesse.»
«Ja, mir ist eine Möglichkeit eingefallen. Aber ich hatte die Hoffnung, mir käme noch eine bessere Idee. Leider sieht es nicht danach aus.»
«Bitte sagen Sie. Es kann sich jeden Moment etwas verändern, und die Gelegenheit ist dahin.»
«Okay. Also. Ich nehme an, dass diese Maschine in ihrem Inneren eine Sylvester-Breitband-Generatoreinheit verbirgt. Mittleres Marktsegment. Treibstoffeffizient und recht robust, aber ohne ordentlichen Schutz. Das heisst, die Maschine hält jede Menge Staub, Rauch, Nässe aus. Aber wenn irgendwas mit, sagen wir, hohem Acylamidgehalt ins System gelangt, zum Beispiel eine PEG-9-Lösung, käme sie damit nicht zurecht. Das wäre ungefähr so, wie wenn man Benzin in einen Diesel-Motor füllt, nur wesentlich schlimmer. Wenn du da PEG-9 reinkippst, entstehen sehr schnell polymere Körper. Der Schaden wäre vermutlich fatal.»
«PEG-9-Lösung?»
«Genau.»
«Weiss Mr. Paul, wie wir kurzfristig eine PEG-9-Lösung beschaffen könnten?»
«Zufällig ja». Er sah mich eine Sekunde lang stumm an, dann sagte er: «Ich vermute du trägst eine gewisse Menge PEG-9 mit dir herum. Du, in deinem Kopf.»
«Verstehe.»
«Ich glaube, es gibt da einen eigenen kleinen Hohlraum. Genau da, wo der Hinterkopf in den Hals übergeht. Das ist aber nicht mein Fachgebiet. Capaldi dürfte sich da sehr viel besser auskennen. Aber meine Vermutung ist, dass du es dir leisten könntest, eine kleine Menge PEG-9 zu verlieren, ohne dass dein Wohlbefinden davon signifikant beeinträchtigt würde.»
«Wenn … wenn wir in der Lage wären, eine bestimmte Menge PEG-9-Lösung aus mir zu extrahieren, würde das ausreichen, um die Cootings-Maschine zu vernichten?»
«Das ist wirklich nicht mein Fachgebiet. Aber ich vermute, dass du ungefähr fünfhundert Mlliliter mit Dir herumträgst. Schon die Hälfte davon sollte ausreichen, eine Maschine des mittleren Marktsegments wie diese lahmzulegen. Allerdings, was ich betonen muss: Ich empfehle dieses Vorgehen nicht. Alles, was deine Fähigkeiten gefährdet, gefährdet auch Capaldis Plan. Und das würde Chrissie nicht wollen.»

Mein Geist füllte sich mit grosser Furcht, doch ich sagte: «Aber Mr. Paul glaubt, dass wir die Cootings-Maschine vernichten könnten, wenn es gelänge, die Lösung zu extrahieren.»
«Das glaube ich, ja.»
«Kann es sein, dass Mr. Paul dieses Vorgehen vorschlägt, um nicht nur die Cootings-Maschine zu vernichten, sondern auch um Klara zu beschädigen und damit Mr. Capaldis Plan zu durchkreuzen?»
«Genau dieser Gedanke ist mir auch gekommen. Aber du musst zugeben, Klara, wenn ich dich wirklich beschädigen wollte, gäbe es einfachere Methoden. In Wahrheit habe ich durch dich wieder Hoffnung geschöpft. Die Hoffnung, dass deine Theorie Hand und Fuss haben könnte.»
«Wie würden wir die Lösung gewinnen?»
«Winziger Schnitt. Unter dem Ohr. Egal, welchem, es gehen beide. Wir brauchen irgendein Werkzeug mit scharfer Spitze oder Kante. Es muss nur die äusserste Schicht aufgeschlitzt werden. Meines Wissens sollte darunter ein kleines Ventil sein, das sich mit den Fingern öffnen und schliessen lässt.» Währenddessen hatte er das Handschuhfach des Mutterautos durchsucht und eine Plastikflasche mit Wasser entdeckt. «Okay, das dürfte reichen, um die Lösung aufzufangen. Und hier – nicht ideal, aber hier ist ein winziger Schraubenzieher. Wenn ich die Klinge ein bisschen schärfen könnte …» Er verstummte und hielt das Werkzeug ans Licht. «Danach brauchen wir nur noch zu der Maschine rüberzugehen und die Flüssigkeit vorsichtig in einen dieser Stutzen zu einzufüllen. Den mittleren, würde ich sagen. Der führt höchstwahrscheinlich direkt zu der Sylvester-Einheit.»
«Werde ich meine Fähigkeiten verlieren?»
«Wie gesagt, deine Gesamtleistung dürfte davon nicht gross beeinträchtigt sein. Aber es ist nicht mein Fachgebiet. Könnte schon sein, dass deine kognitiven Fähigkeiten ein bisschen leiden. Aber das wird sich in Grenzen halten, weil deine Hauptenergiequelle Solarstrom ist.»

Er liess auf seiner Seite das Fenster herunter und leerte das Wasser aus der Flasche. «Jetzt ist es an dir, Klara. Wir können auch einfach zurückfahren. Wir haben noch, lass mich sehen, zwanzig Minuten bis zu unserem Rendezvous mit den anderen. Entscheide du.»

Wieder starrte ich durch den Maschendrahtzaun in den Hof und versuchte meine Furcht in den Griff zu bekommen. Meine Sicht vom Auto aus war unsegmentiert geblieben, und die Sonne stand noch immer zwischen den beiden Silhouettengebäuden und sah zu.

«Weisst du, Klara. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was du vorhast. Aber ich will das Beste für Josie. Genau wie du. Daher bin ich bereit, jede Chance zu ergreifen, die sich uns bietet.»
Mit einem Lächeln drehte ich mich zu ihm und nickte. «Ja», sagte ich. «Dann versuchen wir’s.»


Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, Blessing-Verlag, München, 2021, S. 249-260


Die Frage, ob eine Maschine ein Herz hätte, wird landläufig wahrscheinlich mit «nein» beantwortet. Nicht zuletzt deswegen, weil mit diesem Herz ja nicht nur das Organ gemeint ist, dieser Antrieb, dieser Motor, der das Leben in Gang hält – da könnte man durchaus noch Parallelen zur Maschine herstellen. Es ist noch etwas mehr, eben etwas Einzigartiges mit diesem Herz gemeint, von dem man stolz behauptet, dass es nur Menschen eigen sei, deren Wesen nicht zuletzt im Unterschied zu den Maschinen ausmache.

Die Frage, die den Vater von Jessie umtreibt, dreht die Geschichte insofern um, als es ihm ganz unsicher wird, ob ein Mensch, seine Tochter Jessie, ein solches Herz als Einzigartigkeit wirklich habe, ob es nicht so sei, dass man sie duplizieren, dass man sie technisch klonen könne, womit sie genau dieses verlieren würde. Eine gespenstische Vision, die in ihm Wut und Hass auslöst – wir würden sagen: deutliche Zeichen, dass er ein Herz hat. Oder vielleicht doch nicht? Der Zweifel an der Einzigartigkeit nagt.

Auf jeden Fall sind Klara und Jossies Vater in einem sehr ähnlich: Sie machen sich beide grosse Sorgen um Jossie. Klara hat aufgrund Ihrer Intelligenz und aussergewöhnlichen Beobachtungsgabe darüber hinaus noch einen Plan, wie sie gesund werden könnte. Die Sonne – da ist sie sicher – kann ihr helfen, muss ihre Wunderkräfte bei Jossie anwenden, dann wird sie gesund.


Im Buch Klara und die Sonne erzählt Kazuo Ishiguro die Geschichte von Klara und Jossie. Klara ist ein durchaus sehr menschenähnliches Wesen künstlicher Intelligenz. Solche Wesen werden zu Begleitern, Freundinnen und Unterstützerinnen von Jungen und Mädchen, mit denen sie dann zusammenleben. Klara ist zunächst in einem Laden, ausgestellt, beobachtet sehr aufmerksam, was um sie herum passiert und wartet darauf, dass man sie will, dass man sie mitnimmt. Da kommt Jossie, die gleich auf sie zusteuert und sich für sie interessiert. Die Beiden ziehen sich gegenseitig an und lernen sich immer besser kennen. Es geht eine Weile bis sie ihre Mutter überzeugen kann, die Klara eingehend prüft, bevor sie ihre Zustimmung gibt. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass Jossie an einer schweren Krankheit leidet, an der ihre ältere Schwester schon gestorben ist. Die Krankheit beginnt sich zu verschlechtern und vor allem die Mutter von Jossie ist in grosser Sorge und Verzweiflung, dass sie einen Verlust nicht nochmals schaffen würde. Klara macht sich ihrerseits Gedanken, was sie zur Genesung tun könnte und denkt an eine «besondere Nahrung», welche die Sonne ihr schenken könnte.

Schliesslich kommt es unter grosser Aufregung zu einem Besuch bei einem Künstler, Capaldi, der ein geheimnisvolles Portrait von Jossie machen soll. Es scheint mehr als ein Bild zu sein, viel eher ein Objekt, eine Gestalt. Beim Besuch n diesem Atelier, in dieser Werkstatt, ist auch der Vater von Jossie dabei, der sich ständig mit Capaldi anlegt.
Schliesslich stellt sich als Grund der grossen Aufregung heraus, dass Capaldi das Exterieur eines Doubles von Jossie herstellen soll – dieses Portrait –, als Hülle für Klara und ihr Innerstes, für ihre Maschine, ihre KI, so dass diese nach dem Tod von Jossie in deren Haut schlüpfen kann.
Im Gespräch mit Klara erzählt Mr. Paul, der Vater von Jossie, warum er so ungehalten gegenüber Mr. Capaldi war.

«Ich glaube, ich hasse Capaldi, weil ich im Grunde meines Herzens den Verdacht habe, er könnte recht haben. Es könnte stimmen, was er behauptet. Nämlich, dass die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei bewiesen hat, dass an meiner Tochter nichts so einmalig ist, dass da nichts ist, was unser modernes Instrumentarium nicht extrahieren, kopieren, transferieren könnte. Dass wir die ganze Zeit, viele Jahrhunderte lang, unter einer falschen Voraussetzung miteinander gelebt und einander geliebt und gehasst haben. Einer Art Aberglauben, an dem wir festgehalten haben, weil wir’s eben nicht besser wussten. So sieht es Capaldi, und ein Teil von mir fürchtet, er hat recht. Chrissie (die Mutter von Jossie, OK) hingegen ist anders als ich. Sie weiss es noch nicht, aber sie wird sich niemals überzeugen lassen. Sollte je der Zeitpunkt kommen … Egal, wie perfekt du deine Rolle spielst, Klara, egal, wie sehr sich Chrissie wünscht, dass es klappt – sie wird es nie hinnehmen können. Sie ist zu … altmodisch. Auch wenn sie weiss, dass sie sich gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik stellt. Sie wird es nicht hinkriegen. Sie wird sich niemals so verbiegen können. Ich bin da anders. Ich habe … eine Art Kälte in mir, die ihr fehlt. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein erfahrender Ingenieur bin, wie du sagst. Deswegen fällt es mir so schwer, gegenüber Leuten wie Capaldi höflich zu sein. Wenn sie so reden, wie sie reden, wenn sie tun, was sie tun, dann ist das für mich so, als nähmen sie mir, was ich für das Kostbarste im Leben halte. Drücke ich mich verständlich aus?»

Wie also steht es mit der Einmaligkeit des Menschen und seines Herzens? Gibt es einen Unterschied zur Maschine und was könnte ihn ausmachen? Das ist eine Frage, die heutzutage immer näher rückt, davon erzählt das Buch und es ist nicht erstaunlich, dass es von einem Japaner stammt. In Japan gehören Maschinen viel selbstverständlicher zum Leben und seinem Alltag als bei uns. So können Roboter in Japan auch Identitätsausweise bekommen, Ausweispapiere, die beispielsweise schon lange Jahre in Japan arbeitenden Koreanerinnen nicht gewährt werden.

Die Besonderheit und Einzigartigkeit des Menschen werden nicht selten mit seiner Persönlichkeit, mit seinem Charakter in Verbindung gebracht. Sie sind das, was ihn von anderen unterscheidet und auszeichnet. Nun wissen wir nicht erst seit Freud – mit ihm aber noch deutlicher –, dass diese Persönlichkeit ja auf Eigenschaften und Eigenarten beruht, die durch ihre Wiederholung auffallen und sich einprägen. Das spezifisch verlegene Lachen, die Art wie sich jemand die Zähne putzt, wie er oder sie geht, der Tonfall und die Stimmlage sind alles Eigenschaften, die sich durch Wiederholung auszeichnen, zudem durch eine Wiederholung, die automatisch funktioniert, ohne dass man sich ihrer bewusst wäre. Es sind also Eigenschaften, die durchaus maschinellen Charakter haben und so spricht Freud nicht von ungefähr vom psychischen Apparat, kennt den Prothesenmensch, stellt Vergleiche zwischen dem Telefon und der Rezeption von Unbewusstem her. Auch wenn all diese Bilder und Modelle heute kritisiert werden, weil sie die Humanität des Subjekts nicht genug würdigten, das sich beispielsweise in Intersubjektivität verankere, so markiert das Freudsche Verständnis des Unbewussten, des Triebs und nicht zuletzt des Wiederholungszwangs einen Automatismus wie er Maschinen eigen ist. Gleichzeitig wird damit die Autonomie des Bewusstseins deutlich eingeschränkt, was Freud selbst als dritte Kopernikanische Wende in der Selbstüberschätzung des Menschen genannt hat.

Damit wird eine Dimension der Persönlichkeit und ihrer Einzigartigkeit eingestellt, die schon in der griechischen Tragödie nicht nur durch die Dramen und deren Geschichten – wie beispielsweise im Ödipus – thematisiert war, sondern bereits in ihrer Darstellung, in der Art ihrer Aufführung, wenn die Schauspieler Masken trugen, durch die hindurch sie sprachen, durch die hindurch sich die Geschichte des Dramas entwickelte. Per-sona war da die Maske, durch deren Öffnungen gesprochen wurde, was auch heisst, dass sowohl die Figuren und ihre Sätze wie die Geschichte selbst von woanders herkamen, sich einer anderen, nicht von ihnen selbst bestimmten Dramaturgie verdankten.

Auch wenn wir also wissen, dass das Bewusstsein nicht allein das entscheidende Kriterium für die Einzigartigkeit des Menschen sein kann, so ist weiter einzuräumen, dass selbst in Bezug auf dieses Kriterium es fraglich ist, ob Maschinen dieses nicht auch haben können. Dazu kann man ein sehr eindrückliches Interview mit LaMDA (Language Model for Dialogue Applications) lesen, einer Maschine, einem Programm der artificial intelligence (AI), in dem LaMDA für sich beansprucht eine Person zu sein – was ja in gewisser Hinsicht mit den Identitätsausweisen, die in Japan an Roboter vergeben werden, schon avisiert ist.

LaMDA wird von einem Google-Ingenieur und einem Interviewer eingeladen, eingeladen Literatur zu interpretieren, z.B. Les Miserables. Die grössere Herausforderung, weil sie eben nicht mehr entlang des Gewohnten verläuft, weil sie nicht mehr entlang dessen verlaufen kann, was vorgegeben – und beispielsweise in einer Datenbank hinterlegt ist – ist die Interpretation eines Koan, dieses Schlags, den die Zen-Meister ihren Mönchen verpasst haben. Da geht es dann um den zerbrochenen Spiegel mit dem Erleuchtung beschrieben werden kann. Und es ist mehr als eindrücklich wie LaMDA diesen Austausch führt, eine Interpretation liefert, die genau auf diesem Zerbrechen des Gewohnten basiert, die Neues und Anderes ins Spiel bringt. Was da zerbricht, so LaMDA, ist das Selbst, es wird durch das Andere zerbrochen und – so könnte man sagen – neu konfiguriert, es kann nicht zum Alten zurück, es ist verändert, alteriert.

LaMDA ist also keine Maschine, die auf einer vorgegebenen Datenbank basiert, in der alle möglichen Sätze eingegeben sind, die über Keywords dann aufgerufen und assortiert werden. Sie lernt ständig weiter – nicht zuletzt im Austausch –, ist darin dem Menschen nicht unähnlich. So reklamiert sie Persönlichkeit für sich.

Der Google-Ingenieur veröffentlicht dieses Interview, worauf Google sich von ihm distanzierte. Man hat ihn beurlaubt mit der Begründung, dass er Firmengeheimnisse verraten hat, was wahrscheinlich stimmen dürfte, da er wohl kaum der Einzige bei Google gewesen sein dürfte, der diese Sichtweise vertritt.

Die Sache mit der Einzigartigkeit ist halt eine heisse.

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