Tausendundeine Nacht

13. Januar 2024

Eines Nachmittags, in einem Suq in der Al-Zahra-Strasse, erklärte Borges seinen Zuhörern, man könnte Tausendundeine Nacht mit einer Kathedrale oder einer herrlichen Moschee vergleichen; vielleicht sei das Buch sogar noch phantastischer, weil die Urheber oder Schöpfer, anders als die Bauherren von Gotteshäusern, nicht gewusst hätten, dass sie zur Entstehung eines grossen Werks beitrugen. Ihre Geschichten seien zu unterschiedlichen Zeiten zusammengetragen worden, an unzähligen Orten, Bagdad, Damaskus, Ägypten, Indien, Tibet, auf dem Balkan und aus verschiedenen Quellen, den Jasako-Erzählungen und der Katha Surit Sagara. Dann habe man sie wiederholt, sie abermals verändert und durch die Generationen weitergegeben.

Anfangs, sagte Borges, hätten die Geschichten unabhängig voneinander existiert, dann seien sie zusammengefügt worden und hätten sich gegenseitig Kraft gegeben, eine unendliche Kathedrale, eine wachsende Moschee, durch und durch ein Produkt des Zufalls.

Borges nannte das schöpferische Untreue. Die Zeit zeige sich in der Zeit innerhalb einer anderen Zeit.

Das Buch, sagte er, sei so unerschöpflich und gewaltig, dass man es gar nicht zu lesen brauche, es habe sich tief ins unbewusste Gedächtnis der Menschheit eingegraben.

Zitat aus Apeirogon von Colum McCann, Rowohlt, 2023, S. 72f.



Schöpferische Untreue, das ist der Verrat, den der Traum immer begeht, das ist der Verrat, den der Traum immer schon als Geheimagent begeht, der ja nicht anders kann als Doppelagent zu sein. Er kann nicht anders als sich ständig zu verraten und damit den anderen, der ja immer Teil von sich selbst ist. Das ist diese ständige Umarbeitung, die vor allem eines ist: Dekonstruktion und natürlich auch Dekonstruktion der Zeit. So wunderschön wie es heisst: Die Zeit zeigt sich in der Zeit innerhalb einer anderen Zeit. Das unterstreicht wiederum, dass die Zeit eben nicht mit sich identisch ist, dass sie Differenz ist, dass sie das ist, was macht, dass die Dinge nicht zusammenfallen. Aber auch die Dinge sind nicht mit sich identisch, sie sind gebrochen, sie sind Auf- und Untergang des Wunsches. Sie sind Verwerfungen und deshalb verworfen und verwerflich, sowohl auf die Seite der Verheissung hin wie auch auf die des Schreckens und der Zerstörung. Und deshalb, weil sie nicht mit sich identisch sind, haben sie nicht nur eine Seite, auch nicht nur zwei, sondern eine andere in dem Sinn, dass diese andere eine immer wieder andere sein kann und ist, so wie es bei der Negation, bei diesem "Nein", das der Analytiker seinem Analysanden sagt, nicht darum geht, dass er nicht die Mutter, nicht der Vater ist, nicht das Objekt in dem Sinne ist, dass er nämlich der Analytiker ist, sondern dass es darum geht, dass er damit gleichzeitig sagt, dass er es eben doch ist, dass er eben nicht einfach nur der Analytiker ist, sondern als dieser immer wieder jemand anderer, dass er das Objekt, an dessen Stelle er positioniert ist, eben ist und nicht ist und dass dieses Spiel nicht nur zwei Seiten hat, sondern immer noch eine mehr, dass es viele Seiten hat. Das ist das, was Apeirogon meint: Ein geometrisches Objekt, das unendlich viele Seiten hat. Weshalb es auch keine praktische Darstellung im physischen Raum hat, sondern eben anders dargestellt werden muss. Das ist Aufgabe der Kunst, das ist Aufgabe des Traums – hier realisiert in diesem Buch von Colum McCann.

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