Apeirogon

Colum McCann, Rowohlt, 2022

28. Januar 2024

Apeirogon ist ein Polygon mit unendlich vielen Seiten, man könnte sagen ein sehr assoziatives Gebilde, ein sehr assoziativer Körper, der immer noch einen Aspekt eröffnet. Dass darin auch Picasso zitiert wird, erstaunt nicht. Wunderschön wie auch in der Musik ganz andere Töne und Klänge entdeckt werden, bei Cage natürlich, aber auch wenn Planierraupen überraschend nicht brutal und hart, sondern sanft und schnurrend klingen.
Und vielleicht ist es ja auch so, dass Gedanken unsere inneren Klänge sind. Und die sind nicht einfach unsere eigenen, sondern kommen immer wieder von woanders her.

409
«Bei mir ist ein Bild die Summe von Zerstörungen. Ich mache ein Bild – dann zerstöre ich es. Dennoch geht am Ende nichts verloren: Das Rot, das ich an einer Stelle zugebe, taucht an einer anderen wieder auf.»
Picasso

Dazu ein Zitat von James Joyce aus Finnegans Wake
«And he war»


389
Die Partitur von John Cages Musikstück 4’33’’ enthält statt Noten nur die Anweisung Tacet.


388
Tacet: Das heisst, die Musiker sollten während der gesamten vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden nicht einen Ton spielen.

387
Die Idee zu der Komposition kam Cage 1948. Kurz vorher hatte er sich in die absolute Stille eines schalltoten Raums begeben und sich ausserdem mit einigen neuen Gemälden seines Freundes Robert Rauschenberg beschäftigt: riesige, komplett weisse Leinwände, deren Oberflächen sich nur in der Brechung des Lichts voneinander unterschieden.
Die Erfahrungen der Leere, des stillen Raums und seiner Überlegungen zum Wesen von Klang verbanden sich, als Cage in einem Fahrstuhl der Musikberieselung lauschte.
Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, eine typische Fahrstuhlmusik zu komponieren und sie Stilles Gebet zu nennen.

384
Teilt man den Tod durch das Leben erhält, man einen Kreis.

383
Cage ging es in seinem Stück nicht nur um Stille, sondern auch um die Geräusche, die in der Stille zu hören sind: unruhige Füsse, ein Räuspern, ein Husten, eine huschende Maus unter dem Bühnenboden, Regentropfen auf dem Dach, eine schlagende Tür, ein hupendes Auto, ein dröhnendes Flugzeug über dem Konzertsaal.
Cage begeisterte sich für die Aleatorik, ein Verfahren, bei dem der Komponist der Musik eine vorläufige Richtung gibt, ihren endgültigen Verlauf aber den Verbindungen überlässt, die von den Interpreten, dem Publikum oder sogar von den Geräuschen selbst während der Aufführung erzeugt werden.
Diese Zufallselemente führen dazu, dass jedes selbständige Teilchen, jeder Ton und auch jeder Nicht-Ton dem nächsten etwas Geheimnisvolles verleiht.

381
Am Abend der Uraufführung von 4’33’’ wartete das Publikum in einer umgebauten Scheune bei Woodstock, New York, darauf, dass der Pianist David Tudor den ersten Ton spielte.
Das Stück bestand aus drei Sätzen – der erste dauerte dreiunddreissig Sekunden, der zweite zwei Minuten vierzig und der dritte eine Minute zwanzig.
Tudor zeigte Beginn und Ende jedes Satzes durch das Schliessen und Öffnen des Klavierdeckels an.
Nach viereinhalb Minuten erhob er sich, ohne eine Taste berührt zu haben, von seinem Klavierhocker und verbeugte sich.
Anfangs drang verunsichertes Lachen aus dem Publikum. Dann begannen ein, zwei Leute zu klatschen, andere stimmten ein, und schliesslich ging tosender Applaus durch die Scheune.

380
Nach der Premiere sagte Cage, die ersten dreiunddreissig Sekunden sollten so betörend sein wie die Form und der Duft einer Blüte.

294
Blume meiner Phantasie, ich hütete sie in meinem Herzen.

285
Im Winter 2008 fuhr Dalia el-Fahum fast täglich mit dem Fahrrad von Bethlehem durchs Kidrontal, um Naturgeräusche für ihre Dissertation aufzunehmen.
Dalia fiel auf in Bethlehem – fast eins neunzig, das dunkle Haar zu einem festen Knoten gebunden, über der Stirn eine silberne Strähne.
Sie radelte, mit Kopftuch und in züchtiger westlicher Kleidung, vom Stadtrand bis in die trockenen Hügel jenseits des Tals, oft über dreissig Kilometer.
Manchmal wurde Dalia unterwegs von patroullierenden Polizisten angehalten. Wenn sie mit ihnen sprach, beugte sie die Knie und nahm eine krumme Haltung ein, damit sie kleiner wirkte, weniger bedrohlich. Sie sammle Geräusche für ein Musikprojekt, erklärte sie. Die Soldaten wollten die Aufnahmen hören. Rauschendes Wasser, das Bellen eines wilden Hundes, das Rascheln von Natsch-Disteln im Wind, die Rufe vorbeiziehender Vögel.
Zweimal wurde ihr das Gerät komplett auseinandergenommen, einmal sogar beschlagnahmt. Der Polizist, der es konfisziert hatte, lieferte es am Abend kleinlaut im Dorf ihrer Eltern ab, ohne Batterien.

283
Dalia beschäftigte sich mit dem französischen Komponisten Olivier Messiaen, ein Freund von John Cage, der Vogelstimmen aufgenommen und in Notenschrift transkribiert hatte. Besonders interessierte sie sich für sein Klavierstück Catalogue d’Oiseaux. Sie wollte es mit ihren im Westjordanland aufgenommenen Geräuschen mischen und daraus ein achtstündiges elektronisches Musikstück mit dem Titel Wanderungen machen.
Eines Morgens, Dalias Projekt war halb abgeschlossen, zerrissen in einem Dorf, zwölf Kilometer ausserhalb Bethlehems Planierraupen die Stille. Sie hatte auf ihren Exkursionen schon öfter welche erspäht und unten an der Hauptstrasse die Warnlichter gesehen, aber noch nie war sie so nah dran gewesen.
Aus dem Gebüsch beobachtete sie, wie der Tross einen Olivenhain zerstörte. Sonnenlicht fiel auf die silbrig schimmernden Blätter, als die Bäume aus der Erde gerissen wurden.
Dalia robte bis auf etwas fünfzig Meter heran, hielt das Mikro ihres Sony-Digitalrekorders in Richtung des Lärms und drückte auf Aufnahme.

282
Forscher vom Institut für Angewandte Physik der Universität Bonn haben herausgefunden, dass Pflanzen und Bäume Gase abgeben, wenn sie sich bedroht fühlen. Die Gase erzeugen Schallwellen, die nur mit Hilfe von Laserlicht und einem photoakustischen Sensor hörbar gemacht werden können.
Pflanzen, so die Wissenschaftler, stossen wimmernde Laute aus, wenn man ihre Blätter abschneidet. Bäume warnen sich gegenseitig vor nahenden Insektenschwärmen, und der Duft von frisch gemähtem Gras stammt von Pheromonen in den Halmen.
Ausgangspunkt für ihre Forschungen waren die Erkenntnisse eines anderen Wissenschaftlerteams, das in Pflanzen Dopamin, Serotonin und weitere Neurotransmitter entdeckt haben, obwohl ihr reizleitendes System weder über Nervenzellen noch über Synapsen verfügt.

281
Ein im Kampf verwundeter Soldat wird im Funkverkehr der israelischen Armee als Blume bezeichnet.

276
Als Dalia sich die Aufnahmen später im Tonstudio der Universität anhörte, klangen die Planierraupen viel sanfter als in ihrer Erinnerung. Überhaupt nicht maschinell, eher wie ein schnurrendes Tier, das sich langsam den Hang hinaufbewegt.
Dalia war enttäuscht. Sie hatte auf etwas Brutaleres gehofft, aufreissenden Boden, brechende Wurzeln, fallende Erde, vielleicht sogar auf ein gespenstisches Stöhnen der Bäume.
Sie hantierte mit den Reglern, schnitt die Stellen heraus, wo die Motoren ärter, rauer klangen. Dazu den Ruf eines Soldaten, das Heulen einer Sirene, das Piepen beim Zurücksetzen der Planierraupen, doch einzeln klangen die Geräusche merkwürdig, sogar komische. Als sie die Sequenzen zusammenfügte, fand sie das Ergebnis erbärmlich.
Sie wandte sich wieder dem Rohmaterial zu. Der ferne Ruf eines Kuckucks. Eine Maus im raschelnden Unterholz. Ihre eigenen Schritte im Gras.
Das hatte etwas von Musik. Sie überlegte, die Geräusche mit Vogellauten aus älteren Aufnahmen zu kombinieren, bis iher nach langem Nachdenken klar wurde, dass es ihr nicht um die Planierraupen, die Olivenbäume oder die surrenden Warnlichter ging, sondern um Stille.

384
«Teilt man das Leben durch den Tod, erhält man einen Kreis.»

«Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.» (Freud, 1905d, SA V, S. 74)

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